«Ich nehme jeden Tag so, wie er kommt.»
Evelyne (66) geht mit offenen Augen durchs Leben: Als gelernte und mittlerweile pensionierte Fotografin sieht die Luzernerin die Welt aus einer anderen Perspektive. Ein Gespräch über Erfolgserlebnisse und Rückschläge.
Von der Fotografie über die Porzellanmalerei bis hin zum Nähatelier: Evelyne (66) ist eine Kreativfrau durch und durch. Für die gebürtige Luzernerin war deshalb immer klar, dass sie einen kreativen Beruf ausüben möchte. «Ich bin nicht fürs Büro gemacht», sagt sie gleich zu Beginn des gemeinsamen Gesprächs.
Mit der Fotografie war es hingegen Liebe auf den ersten Blick: «Man ist kreativ, macht etwas mit den Händen und sieht sogleich das Resultat. Das hat mich sofort fasziniert», schwärmt Evelyne von ihrer ersten Begegnung mit einem Fotografen während des Berufswahlparcours. Nach einem Zwischenjahr als Kindermädchen im Tessin startete Evelyne dann ihre Lehre als Fotografin und ist dem Beruf bis heute – sogar nach ihrer Pensionierung – treu geblieben. Am liebsten fotografiert sie dabei Hochzeiten oder die Natur. «Gestellte Fotos mache ich nicht, es muss spontan sein.» Zudem schätzt sie den Austausch mit den Menschen und die Herausforderung, als Fotografin unsichtbar zu bleiben und trotzdem gute und spontane Aufnahmen zu machen. «Als Fotografin sehe ich die Welt mit anderen Augen», sagt sie und erklärt, dass die meisten Menschen ihren Blick von links nach rechts schweifen lassen. «Als Fotografin schaue ich hingegen oft nach oben oder ich fokussiere mich auf die Details.»
An einen Moment in ihrer Berufskarriere erinnert sie sich besonders gut: Und zwar an den Kauf ihres ersten Kleinwagens, einen Mitsubishi Colt. «Als Fotografin musste ich viel reisen, ein eigenes Auto zu haben war für mich und meine Selbstständigkeit wirklich erstrebenswert», erinnert sich Evelyne. Bezahlt hat sie den Kleinwagen mit Bargeld – «so, wie man das damals halt noch gemacht hat», schmunzelt sie und betont, dass es schon ein besonderes Gefühl gewesen sei, das selbst verdiente Geld so auf einem Haufen zu sehen.
Dabei hätte Evelyne eigentlich gar nicht arbeiten müssen, rein finanziell betrachtet. Ihr damaliger Ehemann hätte die dreiköpfige Familie auch alleine ernähren können – so, wie es nach Evelynes Erzählungen damals halt ebenfalls noch üblich war. «Doch die Arbeit erfüllte mich sehr», betont sie. Da die Hochzeiten und Taufen meist am Wochenende stattfanden, konnte der Mann die Betreuung der gemeinsamen Tochter übernehmen, als diese noch klein war. Die anschliessende Bildbearbeitung konnte sie dann von zuhause aus erledigen. «Ansonsten hatte ich das Glück, dass meine Mutter viel auf meine Tochter schauen konnte», so die Luzernerin.
Weniger Glück hatte Evelyne, als ihr mit Ende 20 schwere Rückenprobleme diagnostiziert wurden. Innerhalb von vier Jahren folgten sechs Operationen. An die Konsequenzen erinnert sich Evelyne nur zu gut: «Mit Anfang 30 konnte ich meinen Beruf nicht mehr vollzeitig ausüben und musste Leistungen von der Invalidenversicherung beziehen.» Als Fotografin war sie bei einer Hochzeit in der Regel bis zu 16 Stunden am Stück auf den Beinen – mit einem kaputten Rücken ein Ding der Unmöglichkeit. «Das war eine schwierige Zeit für mich», gibt die passionierte Fotografin zu. «Der Gedanke, nicht mehr zu arbeiten, war für mich unvorstellbar.» Gearbeitet hat sie deshalb so viel, wie es die Gesundheit zuliess. Um den Rücken zu schonen, hat sie neben der Fotografie auch andere Nebenjobs angenommen – natürlich allesamt im Kreativbereich: «Ich habe im Siebdruck ausgeholfen und mit der Kollegin ein Nähatelier im Quartier eröffnet.»
Heute geniesst Evelyne ihr Pensionierten-Dasein und nimmt jeden Tag so, wie er kommt. Ihre Freizeit verbringt die 66-Jährige am liebsten mit einem spannenden Thriller aus dem hohen Norden, mit der Porzellanmalerei oder auch mal auf TikTok. «Ich bin ein neugieriger und technikbegeisterter Mensch», sagt Evelyne und erzählt, dass auf TikTok ganz lustige Inhalte zu finden sind, aber eben auch sehr viel Seich. Gerade letzteres bereitet ihr im Hinblick auf die Entwicklung unserer Gesellschaft auch ein wenig Sorgen: «Wir dürfen nicht alles glauben, was uns erzählt wird», mahnt sie zur Vorsicht. Gerade deshalb sei es ihrer Meinung nach wichtig, in den Bildungssektor zu investieren: «Die jüngeren Generationen müssen lernen, wie man mit Informationsquellen kritisch umgeht.»
Für Evelyne ist aber auch klar, dass wir als Gesellschaft das Zwischenmenschliche wieder stärker pflegen müssen. «Die Wirtschaft ist wie ein Haushalt – einfach in gross», sagt sie. Damit der Haushalt funktioniert, müssen alle mit anpacken: «Wirtschaft heisst für mich, dass die Schweiz als Land funktioniert. Das betrifft den öffentlichen Verkehr, den Strassenbau, das Gesundheits- und Bildungswesen oder die Lebensmittelketten. Jede und jeder ist ein Teil der Wirtschaft – da bin auch ich nicht ausgenommen.»
Wir freuen uns, Evelyne am 13. Mai 2023 als Teil der «58 für die Schweiz» in der KV Business School Zürich zu begrüssen.