Carte Blanche von Katja Gentinetta, Politische Philosophin: Die Wirtschaft sind wir

Die Covidpandemie hat uns Wichtiges gelehrt. Nicht zuletzt, dass es ohne Wirtschaft nicht geht.

Die Wirtschaft sind wir. Das dürfte vielen in den letzten beiden Jahren angesichts der verschiedenen Krisen und Lieferengpässen zum ersten Mal so richtig bewusst geworden sein. Was als Slogan gegen die unverbesserlichen Kritiker der Wirtschaft, der freien Marktwirtschaft, ja des Kapitalismus, diesem kalten Machwerk der Gierigen, gedacht war, entpuppte sich angesichts des Vollstopps durch die Covidpandemie als ebenso banale wie brutale Wirklichkeit.

Blick zurück

Auf einen Schlag wurden wir im März 2020 Zeuge davon, was es heisst, wenn ein Geschäft oder Restaurant schliessen muss. Wenn die Gäste ausbleiben, wenn keine Kundschaft mehr kommt, wenn keine Dienstleistungen mehr gefragt sind, ja nicht einmal mehr angeboten werden dürfen – plötzlich stand alles still.

Existenzielle Bedrohung vs. wertvolle Erfahrung

Was für die einen eine existenzielle Bedrohung darstellte, mag für andere eine wertvolle Erfahrung gewesen sein. Wie viel man plötzlich spart, wenn man nicht auswärts isst und im Vorbeigehen noch shoppt. Welche Ruhe einkehrt, wenn man plötzlich nicht mehr für alle möglichen Veranstaltungen herumreisen muss. Welcher Fokus möglich ist, wenn Sitzungen ohne das ganze Gehabe auskommen müssen, weil sie am Bildschirm stattfinden. Worauf man plötzlich verzichten kann, wenn’s nun mal nicht zu haben ist. Und was man schon alles hat, wenn man sich zu Hause mal wieder richtig umschauen muss.

Ganz zu schweigen davon, wie die Natur aufblühte und vor Reinheit strotzte – als würde sie den Rückgang unserer Emissionen geradezu verkünden wollen!

Unverhoffte Nebenwirkungen

All diese Erfahrungen, die wir während der Covid-Krise gemeinsam machten, geben jenen recht, die den Verzicht und das einfache Leben predigen. Die unserem Überkonsum ein Ende bereiten wollen. Für die die Globalisierung des Teufels ist. Die als Ideal ein Nullwachstum anstreben – als ob man das Wachstum punktgenau einstellen könnte. Sie freuen sich über diese unverhofften Nebenwirkungen, die – dem Virus sei dank! – plötzlich Realität wurden und uns über die Pandemie hinaus eine Lehre sein sollen.

«Wo weniger gekauft wird, wird weniger produziert und gearbeitet, weniger verdient und weniger versteuert. Was für den Einzelnen eine wohltuende Veränderung sein mag, ist für eine Gesellschaft und einen Staat als Ganzes nicht unproblematisch.»
Eine funktionierende Wirtschaft ist das A und O

Es gibt aber einen Haken: Wo weniger gekauft wird, wird weniger produziert und gearbeitet, weniger verdient und weniger versteuert. Was für den Einzelnen eine wohltuende Veränderung sein mag, ist für eine Gesellschaft und einen Staat als Ganzes nicht unproblematisch.

Wer nun meint, der Staat könne das einfach auffangen, macht die Rechnung buchstäblich ohne den Wirt. Natürlich haben wir einen Staat, der während der Pandemie grosszügig unter die Arme greifen konnte, ja greifen musste, weil er die Pause verordnet hatte. Und natürlich haben wir einen Sozialstaat, der Folgen davon auffangen und überbrücken kann. Aber der Staat kann das nur, wenn er von einer funktionierenden Wirtschaft alimentiert wird.

Neue Welt – quo vadis?

Wir stehen vor einer Transformation, möglicherweise einer nachhaltigen, und zwar im dreifachen Sinne. Unternehmen haben ihre Lehren aus der Krise gezogen und werden diese weiterhin umsetzen; Konsumentinnen haben gewisse Verhaltensänderungen nicht mehr rückgängig gemacht, und (potenzielle) Mitarbeitende sehen noch genauer hin, wie sich eine Firma verhält. Es ist nicht auszuschliessen, dass wenig nachhaltige Produkte dauerhaft an Akzeptanz verlieren. Dass es nicht mehr nur bei Lebensmitteln darauf ankommt, wie weit sie gereist sind. Dass Qualität vor Quantität steht und Herkunft und ökologischer Fussabdruck den Ausschlag geben, wenn es um einen Kaufentscheid geht.

«Die Wirtschaft sind wir. Und ohne Wirtschaft sind wir nichts.»

Eine solche Transformation ginge in die richtige Richtung. Aber sie gelingt nur, wenn wir die Freiheit haben, uns individuell und gegenseitig – als Unternehmerin, Konsument und Angestellte – auf diese neue Welt einzustellen. Denn: die Wirtschaft sind wir. Und ohne Wirtschaft sind wir nichts. Das könnte eine wichtige Erkenntnis sein – auch für jene, die mit ihr hadern.

Dieser Artikel ist eine Adaption der Kolumne von Katja Gentinetta aus der NZZ am Sonntag vom 18. April 2020.

Dr. phil. Katja Gentinetta

Katja Gentinetta ist politische Philosophin.

Seit über 10 Jahren arbeitet sie als selbständige Publizistin, Universitätsdozentin und in strategischen Führungspositionen. Sie ist Kolumnistin des Magazins Pragmaticus; sie publiziert und referiert im In- und Ausland regelmässig zu gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Themen. Sie ist Verwaltungsrätin verschiedener Unternehmen und Organisationen sowie Mitglied des Aufsichtsrats des IKRK.

Am 13. Mai 2023 wird sie zudem das Schlusspanel zum Thema «Wir, die Wirtschaft» moderieren.