Dekarbonisierung anpacken, aber wie? Das grosse Generationengespräch

Marc de Roche hat ein Berufsleben als Informatiker hinter sich und züchtet jetzt als Rentner Schmetterlinge, Sarah Fuchs kümmert sich bei Swissmem, dem Verband der Schweizer Tech-Industrie (Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie und verwandte Technologiebranchen) um politische Interessenvertretung. Im Rendez-vous sprechen die beiden über die Rolle der Schweizer Tech-Industrie auf dem Weg zu einer klimafreundlichen Wirtschaft.

Unser Gesprächsthema ist der ‘Beitrag der Schweizer Tech-Industrie an die Dekarbonisierung’, also an eine klimaneutrale Wirtschaft. Herr de Roche, Sie leben in Bern, haben zwei erwachsene Kinder und zwei Grosskinder – was kommt Ihnen zu diesem Thema spontan in den Sinn?

Marc de Roche: Ich gehöre zur älteren Generation. Ich erinnere mich an den ‘Club of Rome’ und seinen Bericht über die ‘Grenzen des Wachstums’ von 1972. Schon damals wurde klar, dass wir in der Energieversorgung von Öl und Gas wegkommen müssen. Obwohl wir Bescheid wussten, haben wir die Chance verpasst.

«Obwohl wir Bescheid wussten, haben wir die Chance verpasst.»
Marc de Roche, pensionierter Informatiker

Frau Fuchs, Sie sind eine Generation jünger als Herr de Roche. Sie leben mit Ihrem Mann und Ihrem einjährigen Sohn in Meilen am Zürichsee. Woran denken Sie beim Stichwort ‘Dekarbonisierung’?

Sarah Fuchs: Ich sehe die Probleme, die wir weltweit mit dem Klimawandel haben. Da müssen wir gegensteuern. Das ist die Haltung von Swissmem, und es ist auch meine Meinung. Dabei finde ich persönlich: Wir müssen den Leuten trotz allem die Freiheit lassen, ihre Lebensweise selbst zu bestimmen. Ich möchte nicht auf Verzicht setzen. Ich möchte nicht vorgeschrieben bekommen, ob ich noch in die Ferien darf und ob ich dafür den Zug nehmen muss. Unser Ziel muss es sein, unseren Lebensstandard zu halten, ohne dabei der Umwelt zu schaden. Es muss uns dabei gelingen, die Umweltbelastung wieder rückgängig zu machen – etwa Plastik aus den Meeren zu holen oder das CO2 aus der Atmosphäre.

Welche Rolle spielt die Schweizer Industrie bei der Dekarbonisierung?

Sarah Fuchs: Die Wirtschaft – da gehört die Industrie dazu – muss Lösungen finden, wie sie weniger Treibhausgas-Emissionen verursacht, ohne weniger zu produzieren. Als Verband steht Swissmem voll hinter dem Ziel ‘Netto-Null 2050’, also den weitgehenden Verzicht auf fossile Energieträger bis im Jahr 2050. Wir wollen das mit technischen Möglichkeiten schaffen. Diese werden nicht zuletzt von unserer Industrie entwickelt.

«Unser Ziel muss es sein, unseren Lebensstandard zu halten, ohne dabei der Umwelt zu schaden. »
Sarah Fuchs, Leiterin Politik bei Swissmem

Marc de Roche: Technische Verfahren haben eine Bedeutung. Aber Dekarbonisierung ist nicht nur ein technischer Vorgang. Wir brauchen den Willen, Dinge schnell zu ändern. Aus meiner Sicht ist es nämlich höchste Zeit! Ich vermute, dass das nicht ganz ohne Verzicht und Verbote gehen wird, denn anders dürfte es nicht funktionieren. Selbst wenn sich Swissmem für die Dekarbonisierung ausspricht, Frau Fuchs, besteht doch die Gefahr, dass die einzelnen Unternehmen nur gerade so viel machen, wie unbedingt nötig, oder?

«Ich hätte es gern, wenn sich Swissmem auf messbare Verpflichtungen festlegen würde.»
Marc de Roche, pensionierter Informatiker

Sarah Fuchs: Wir haben landesweit gut 1350 Mitgliedsfirmen. Die Spannweite reicht vom Einmannbetrieb bis zum Grossunternehmen wie ABB, Siemens oder Stadler Rail. Viele kleinere Firmen wollen die Dekarbonisierung bis 2050 schaffen. Wir haben auch Grossunternehmen, die Klimaneutralität schon bis 2030 anstreben. Mit diesen unterschiedlichen Tempi sind wir, glaube ich, ein recht gutes Abbild der Schweizer Gesellschaft. Ich hoffe, dass wir am 18. Juni ‘Ja’ sagen zum Klimaschutzgesetz. Das ist auch die klare Haltung von Swissmem.

 

Marc de Roche: Was Sie sagen, Frau Fuchs, gefällt mir – aber es darf nicht bei Absichtserklärungen bleiben. Wenn man sagt, wir probieren es mal bis 2030, und wenn es nicht klappt, halt bis 2050, und wenn es bis dann nicht klappt, wird es eben 2070 – dieses Spiel gefällt mir nicht. Ich hätte es gern, wenn sich Swissmem auf messbare Verpflichtungen festlegen würde.

Frau Fuchs, braucht es mehr Verbindlichkeit für das, was in den nächsten Jahren zu geschehen hat? Sollen die Schweizer Firmen international gesehen die ersten sein, die die fossilen Energien hinter sich lassen, oder gefährdet das den wirtschaftlichen Erfolg?

Sarah Fuchs: Die Schweiz hat Klimaschutzziele für die einzelnen Sektoren festgelegt. Die Industrie gehört zu den wenigen Sektoren, die ihre Zwischenziele bisher erreicht haben, indem sie den Ausstoss von CO2 im Jahr 2020 um über 50 Prozent reduziert hatte im Vergleich zu 1990. Was das Jahr 2050 angeht, stehen wir zu unserem Versprechen. Die Umsetzung ist Sache der einzelnen Firmen. Die grossen Firmen müssen über das, was sie erreicht haben, auch öffentlich Rechenschaft ablegen. Verpassen Sie ihr Ziel, dürfte sich das zum Beispiel im Aktienkurs niederschlagen.

Die Schweiz hat sich richtigerweise auf die internationalen Klimaziele verpflichtet. Bei der Umsetzung müssen wir darauf achten, dass wir nicht zu stark in die Wirtschaftsfreiheit eingreifen. Die Firmen kennen ihr Geschäft und wissen selbst am besten, wie sie bis 2050 klimaneutral werden.

Herr de Roche, Sie waren in verschiedenen Unternehmen als Informatiker tätig. War Dekarbonisierung früher auch schon ein Thema?

Marc de Roche: Durchaus, ich erinnere mich an zwei sehr gegensätzliche Erfahrungen. Als ich für den Schreibmaschinenhersteller Olivetti gearbeitet habe, war das in der Zeit, als dieser den ‘Club of Rome’ gesponsert hat. Es hat mir gefallen, dass das Unternehmen sich für ein verantwortungsvolles Wachstum engagiert hat. Später war ich bei Digital Equipment Corporation, die in den 1980er Jahren zur zweitgrössten Computerherstellerin hinter IBM aufstieg. Damals herrschte eine grosse Wachstumseuphorie. Ich hatte ein Büro in München und bin am Morgen mit der Air Engiadina von zuhause nach München gependelt. Fliegen, Reisen, Spesen – alles war vom Feinsten. Heute sehe ich diese Form von Wirtschaften, die keine Rücksicht auf die Ressourcen nimmt, kritisch. Damals war ich auch der Meinung, die Politik sollte sich in die Wirtschaft nicht einmischen. Heute denke ich, dass die Politik doch gewisse Leitplanken setzen muss. Unterdessen bin ich pensioniert und züchte Schmetterlinge. An ihnen kann man übrigens gut ablesen, ob die Umwelt intakt ist oder nicht.

«Die Wirtschaft – da gehört die Industrie dazu – muss Lösungen finden, wie sie weniger Treibhausgas-Emissionen verursacht, ohne weniger zu produzieren.»
Sarah Fuchs, Leiterin Politik bei Swissmem

Frau Fuchs, Sie kümmern sich beruflich um die politische Interessenvertretung von Swissmem und damit auch um Fragen des Klimawandels. Was verbindet Sie biografisch mit diesem Thema?

Sarah Fuchs: Ich bin auf dem Land im Thurgau aufgewachsen. Ich war lange in der Pfadi, und damit gern draussen im Grünen. Später studierte ich Internationale Beziehungen, war dafür in Deutschland, Japan und in Brüssel. Die Chance, andere Teile der Welt zu sehen, hat mir persönlich sehr viel gebracht. Ich finde, alle sollten diese Möglichkeit haben, auch unter den Vorzeichen des Klimawandels. Meinen Berufseinstieg machte ich bei einem Stadtwerk im Bereich Energie. Dann war ich bei der Credit Suisse und seit vier Jahren nun bei Swissmem.

Sie haben vorhin angedeutet, Herr de Roche, dass Sie mit einem schlechten Gewissen auf diese Zeit der Wachstumseuphorie zurückblicken. Ich habe mich sehr gefreut über diese selbstkritische Perspektive. Ich glaube aber, dass es auf einer persönlichen Ebene kein schlechtes Gewissen braucht. Indem Sie damals so gehandelt haben, haben Sie auch am Aufbau des Schweizer Wohlstandes mitgewirkt. Wichtig finde ich, dass man den Weg unterstützt, den wir heute gehen, und da scheinen Sie mir sehr fortschrittlich.

 

Marc de Roche: Ich hatte etwas Angst vor diesem Gespräch, weil ich befürchtet habe, dass ich hier mit schönen Absichtserklärungen von Swissmem konfrontiert werde und da nicht mitreden kann. Diese Angst ist jetzt weg. Ich habe im Gespräch verstanden, dass Sie, Frau Fuchs, in Ihrer Aufgabe eine Gratwanderung machen müssen zwischen idealen Umweltzielen und dem kommerziellen Erfolg der Unternehmen. Das sind Gegensätze, die nicht so einfach aufzulösen sind. Es braucht ein Umdenken.

Die Industrie steht vor der Aufgabe, die Produktion klimafreundlich zu organisieren. Zugleich stellt die Industrie Produkte her, die die Dekarbonisierung voranbringen. Um nur ein Beispiel für ein innovatives Schweizer Umwelttechnik-Unternehmen zu nennen: Die Zürcher Firma Climeworks etwa holt mit ihrer Technologie CO2 aus der Atmosphäre. Was braucht es, dass sich ‘grüne’ Geschäftsideen in der Schweiz gut entwickeln können?

Sarah Fuchs: Es braucht Tüftler, die sich emissionsarme, energieeffiziente Lösungen ausdenken. Es braucht Personen, die diese Ideen kommerzialisieren. Darüber hinaus braucht es Leute, die an diese Ideen glauben und in sie investieren. Produkte der Umwelttechnik können ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie weltweit verkauft werden und zur Anwendung kommen. Wenn eine Maschine dank innovativer Technologien über 20, 30 Jahre weniger Strom braucht, dann ist das ein riesiger Impact. Es braucht auch Leitplanken der Politik, die das Wachstum solcher Firmen ermöglichen und begünstigen.

«Heute denke ich, dass die Politik doch gewisse Leitplanken setzen muss.»
Marc de Roche, pensionierter Informatiker

Marc de Roche: Die Schweizer Produkte müssen in die Welt hinaus, das ist richtig. Wir müssen bei alledem aber auch die Herkunft der Rohstoffe und Halbfabrikate bedenken, die unsere Industrie verarbeitet. In diesen steckt oft viel fossile Energie. Hier braucht es einen Kreislauf mit Wiederverwertung und Recycling. Ich finde ausserdem, dass die öffentliche Hand die Vergabe von Aufträgen davon abhängig machen sollte, ob eine Firma bei der Dekarbonisierung voranmacht.

Wenn Sie mir noch eine etwas saloppe Frage erlauben: Freuen Sie sich darauf, vielleicht einmal in einer CO2-freien, klimaneutralen Welt leben zu können?

Marc de Roche: Man möchte das mit einem schnellen Ja beantworten. Doch wann ist es soweit? Wahrscheinlich braucht es noch einige Dürren und Naturkatastrophen, bis das Umdenken wirklich stattfindet. Alles, was wir jetzt machen, machen wir bereits für die nächste Generation. Auch wenn Swissmem jetzt die Dekarbonisierung kräftig vorantreibt, werde ich persönlich nicht mehr davon profitieren. Es wäre aber traumhaft, noch die ersten Erfolge mitzuerleben.

«Alles, was wir jetzt machen, machen wir bereits für die nächste Generation.»
Marc de Roche, pensionierter Informatiker

Sarah Fuchs: Ich freue mich in jedem Fall auf diese Welt. Ich freue mich auf die Schlagzeile «Gletscherschwund gestoppt», oder wenn aus der Sahelzone nicht ein neues Dürrejahr, sondern ein Regenjahr mit guten Erträgen gemeldet wird. Wie das Leben in einer klimaneutralen Welt aussieht, dafür habe ich kein Bild vor Augen. Aber einen Urwald, der nicht mehr abgeholzt wird, oder ein Korallenriff, das in schönen Farben leuchtet – das kann ich mir vorstellen.

Bildschirmfoto 2023-05-02 um 09.36.17
Über das Format

«Rendez-vous» ist ein Format, bei dem sich zwei Personen in einem online Meeting über ein Thema austauschen, das für die Zukunft unserer Wirtschaft und damit für die ganze Schweiz wichtig ist. Dabei geht es nicht um einen Schlagabtausch mit wirtschaftspolitischen Argumenten. Ziel ist vielmehr, im gemeinsamen Gespräch die eigene Sichtweise darzulegen, andere Sichtweisen wahrzunehmen und ein gemeinsames Verständnis herzustellen – was nicht bedeuten muss, dass die Gesprächspartner:innen in allen Punkten gleicher Meinung sind.

Das Rendez-vous wird moderiert vom Journalist Benedikt Vogel.