Nachgefragt bei Sergio Ermotti: Die Rückversicherer als unbekanntes Powerhouse der Schweizer Wirtschaft

Die Schweiz exportiert viele ihrer Dienstleistungen ins Ausland. Dies trifft auch für die Branche der Rückversicherungen zu, die zu den produktivsten der Schweizer Wirtschaft gehört. Die Branche ist seit der Jahrtausendwende überdurchschnittlich gewachsen und hat die Schweiz zum drittgrössten Standort für Rückversicherer gemacht. Sie tragen damit wesentlich zu unserem Wohlstand und Wirtschaftswachstum bei. Doch was genau machen Rückversicherer und weshalb sind sie so gerne in der Schweiz zuhause? Sergio Ermotti, Präsident des Verwaltungsrats von Swiss Re, gibt einen Einblick in die Welt der Rückversicherer.

Es kennt sie kaum jemand, doch sie sind da und sie sind fleissig: Die Rückversicherer sind für beinahe 20 Prozent der Wertschöpfung des Schweizer Versicherungssektors verantwortlich. Mit einer hohen Wertschöpfung pro Vollzeitstelle ist die Branche 22-mal so produktiv wie die Schweizer Gesamtwirtschaft. Wie kann das sein? Wir haben bei Sergio Ermotti, Präsident des Verwaltungsrats von Swiss Re, nachgefragt. Herr Ermotti, was macht Rückversicherer so viel produktiver als Erstversicherer oder andere Firmen beziehungsweise Branchen?

Sergio Ermotti: In der Tat sind die Schweizer Rückversicherer eher stille Schaffer aber, wie Sie sagen, mit hoher Wirkung. Die Schweizer Rückversicherer haben 2021 weltweit fast 22 Milliarden Franken Schadenzahlungen geleistet. Und mit knapp 100 Milliarden Franken an Kapitalanlagen sind sie auch eine wichtige Geldgeberin für die Realwirtschaft im In- und Ausland und für die öffentliche Hand.

Die hohe Produktivität unserer Branche hängt in erster Linie mit unserer hohen Expertise und mit unserem Geschäftsmodell zusammen. Rückversicherer sind im B2B-, also im Geschäft von Unternehmen zu Unternehmen tätig. Hier bringen sie ihr Risikowissen zum Tragen und geben dem Risiko einen Preis in Form von Prämien. Erstversicherer kaufen für den Fall von Grossschäden, die sie nicht selbst tragen wollen, bei den Rückversicherern Deckung ein. Dafür zahlen sie eine Rückversicherungsprämie. Übrigens wird in unserer Branche jeweils jährlich neu über die Deckungen verhandelt. Denn bei diesen Deckungen geht es regelmässig um grosse Portefeuilles, im Leben-Bereich etwa Millionen von Lebensversicherungspolicen oder im Nicht-Leben-Bereich um Schäden aus Wirbelstürmen oder Erdbeben. Die Produktivität pro Mitarbeiter oder Mitarbeiterin ist deshalb hoch, weil Rückversicherer mit vergleichsweise wenig, dafür sehr hochqualifiziertem Personal auskommen und weil die Prämienvolumina aufgrund der grossen abgedeckten Risiken hoch sind.

Rückversicherungen

Privatpersonen und Organisationen können ihre Risiken bei einer Versicherung versichern lassen. Das Risiko eines Schadenfalls liegt dann bei der Versicherung. Diese muss bezahlen, wenn der Schadenfall eintritt.

Versicherungen betreuen sehr viele Personen und Firmen sowie unterschiedliche Fälle; sie tragen also ein grosses Risiko. Einen Teil ihrer Risiken können sie durch Rückversicherungen versichern lassen und sich damit schützen.

Wer als Rückversicherer erfolgreich sein will, muss international tätig sein. Deshalb versichern Schweizer Rückversicherer weltweit Risiken von Versicherungskonzernen, wie Naturkatastrophen, grosse Einzelrisiken, wie Industrieanlagen, aber vereinzelt auch neue Risiken, wie etwa im Cyber-Bereich. Können Sie uns erklären, was eine Ausweitung des Portfolios auf neue Risiken und neue Märkte für Rückversicherer bringt, Herr Ermotti?

Sergio Ermotti: Risiko ist unser Geschäft! Die Welt entwickelt sich stetig weiter, und so entstehen auch laufend neue Risiken. Das macht unsere Tätigkeit so spannend. Wir wollen die Welt widerstandsfähiger machen. Das gelingt uns, wenn wir neue Risiken verstehen und Lösungen entwickeln, die wir unseren Kunden, den Erstversicherern, für die Risikodeckung anbieten können. Das erwarten unsere Kunden von uns. Es ist der Kern des Mehrwerts, den wir unseren Kunden bieten. Unser Geschäft ist deshalb stark auf Innovation ausgerichtet. Im Rahmen des Swiss Re Institute beschäftigen sich quer durch Swiss Re mehrere hundert Fachleute mit der Erforschung von Risiken und der Entwicklung von Modellen und Risiko-Transfer-Lösungen.

Hinzu kommt, dass wir weltweit noch immer grosse Deckungslücken sehen. Drei Viertel der theoretisch versicherbaren Werte sind nämlich nicht versichert. In Italien etwa hat nur einer von 100 Hausbesitzern eine Erdbebenversicherung. Wir arbeiten deshalb daran, zum Beispiel mit digitalen Versicherungslösungen die Schwelle zur Versicherung zu senken. Auch die Kosten der Versicherungsleistung können wir im Rahmen der Digitalisierung senken. Früher entsandten wir Schadensinspektoren. Heute können wir mit Satellitendaten oder mit Drohnenaufnahmen günstig, schnell und zuverlässig Schadensschätzungen machen.

So können wir vor allem auch in Entwicklungs- und Schwellenländern neue Versicherungsmärkte erschliessen und für immer mehr Menschen ein finanzielles Auffangnetz bereitstellen.

Trotz – oder vielleicht wegen – der sehr unterschiedlichen Risiken, die Rückversicherer versichern, sind viele solche Unternehmen in der Schweiz ansässig. Die kleine Schweiz ist nämlich der drittgrösste Standort für Rückversicherer weltweit. Die neuste Studie von BAK Economics zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Branche der Rückversicherungen hält mehrere Faktoren fest, die bei der Standortwahl für Rückversicherer zentral sind. Inwiefern bietet die Schweiz einen offenen Zugang zum internationalen Rückversicherungsmarkt?

Sergio Ermotti: Wir Rückversicherer fühlen uns in der Tat in der Schweiz wohl. Rückversicherer benötigen hochqualifizierte Fachkräfte. Wir sind darauf angewiesen, weltweit die besten Talente für einen Einsatz in der Schweiz gewinnen zu können. Am Hauptsitz von Swiss Re arbeiten Beschäftigte aus rund 80 Nationen. Ein flexibler, offener Arbeitsmarkt ist deshalb zentral für unsere globale Wettbewerbsfähigkeit. Auch die Nähe zu ausgezeichneten Hochschulen ist ein grosser Vorteil. Als Rückversicherer rekrutieren wir Expertinnen und Experten aus praktisch allen Fachrichtungen.

Was schliesslich aus internationaler Sicht wichtig ist, ist eine gute und effektive Versicherungsaufsicht, die auf Augenhöhe mit den Aufsichtsbehörden anderer Finanzplätze wie USA oder UK verkehren kann. Rückversicherung ist ein globales Geschäft. Mit einer international gut vernetzten Aufsicht gelingt es der Schweiz, bei internationalen Standards die Interessen des Finanzplatzes einzubringen. Das sichert unserer Branche den Marktzugang und gute Wettbewerbsbedingungen.

Top 5 Standortfaktoren
  1. Zugang zu offenen Rückversicherungsmärkten weltweit
  2. International kompatible und dem Geschäftsmodell angepasste Regulierung/Aufsicht
  3. Verfügbarkeit von Fachkräften
  4. Politische und wirtschaftliche Stabilität
  5. Lebensqualität (Gesundheitswesen, Bildungswesen, Freizeitangebot)

Die Vereinigten Staaten und Deutschland sind uns als Standort noch voraus. Klar ist aber, dass die Schweiz einige Vorteile für Rückversicherer bietet. Was kann aus Ihrer Sicht noch verbessert werden, um für die Branche noch attraktiver zu werden oder eine Abwanderung von Rückversicherern zu verhindern? Ist das überhaupt ein realistisches Risiko?

Sergio Ermotti: Unsere Branche steht in einem intensiven globalen Wettbewerb. Wir sollten uns deshalb nie auf unseren Lorbeeren ausruhen, denn andere Finanzplätze entwickeln sich stetig weiter. Um aus der Schweiz heraus auch künftig eine möglichst hohe Wertschöpfung zu erbringen, sollten wir – nebst der erwähnten Pflege guter Rahmenbedingungen – kontinuierlich in die Ausbildung investieren. Auch Forschung und Entwicklung im Bereich Risikoanalyse, -modellierung und -transfer gehören dazu. Denn unsere Fähigkeit, innovativ zu sein, ermöglicht uns, im globalen Wettbewerb die Nase vorn zu behalten.

Auch die internationale Erreichbarkeit ist in unserem Geschäft sehr wichtig. Zwar hat die Pandemie gezeigt, dass vieles auch per Teams oder Zoom möglich ist. Aber am Ende lebt unser Geschäft vom persönlichen Austausch. Entsprechend wichtig sind internationale Direktflugverbindungen. Besonders unsere europäischen Kunden schätzen es, für Gespräche einen Tag nach Zürich zu kommen. Dieser Vorteil der leichten Erreichbarkeit unterscheidet uns übrigens auch klar vom viertplatzierten Land unter den Rückversicherern: Bermuda.

Das Thema Fachkräftemangel wird national und international intensiv diskutiert. Ein Teil der Mitarbeitenden in der Schweizer Rückversicherungsbranche stammt aus der Schweiz. Die Rückversicherer sind aber auch stark auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Herr Ermotti, wie wirkt sich der Fachkräftemangel auf Ihr Unternehmen beziehungsweise die Branche aus? Was halten Sie für einen möglichen Lösungsansatz, um dem Fachkräftemangel hierzulande zu begegnen?

Sergio Ermotti: Es ist ganz einfach: Ohne Fachkräfte aus dem Ausland ist kein Rückversicherungsgeschäft aus der Schweiz möglich. Ich habe erwähnt, dass wir auf hoch qualifizierte Fachkräfte angewiesen sind. Zum Glück ist die Schweiz immer noch ein attraktiver Ort zum Wohnen und Arbeiten. Aber auch Swiss Re spürt die demografischen Veränderungen: Immer weniger junge Leute treten in den Arbeitsmarkt ein, während in den kommenden zehn Jahren hunderttausende Babyboomer in Pension gehen werden.

Swiss Re investiert deshalb zum einen in attraktive Arbeitsplätze am Hauptsitz in Zürich. Darüber hinaus fördern wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und ermöglichen mit Home Office auch eine hohe Gestaltungsfreiheit bei der Arbeit.

Über die Person

Sergio Ermotti ist seit 2020 Verwaltungsrat des Rückversicherers Swiss Re und seit 2021 Präsident des Verwaltungsrats.